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Aber man pflegt
sie geringzuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel
Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem
gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. -
Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen:
wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des
Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten
Menschenleben reich ist, nicht vergisst. 50. Mitleiden erregen wollen.- La Rochefoucauld trifft in der
bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt
1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor
dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke
zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht
durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem
Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen;
während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele
entkräfte. Freilich solle man Mitleiden bezeugen, aber sich hüten, es
zu haben: denn die Unglücklichen seien nun einmal so dumm, dass bei
ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. - Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen,
wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit
und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche
das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu
fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie
bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr
Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken
und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen
und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel
verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann
äussern, ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden,
als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben,
trotz aller ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu thun. Der Unglückliche
gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit,
welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine
Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt
Schmerzen zu machen.
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Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach
Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den
Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben
Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld
meint. - Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller
Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein
klein Wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach
Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen
unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich
geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens: ebenso
wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin
verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. - Aber wird es viele
Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu
thun? dass man sich nicht selten damit unterhält - und gut unterhält
-, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und
die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die
Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von
diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen,
dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il
n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le
faire."
51. Wie der Schein zum Sein wird. - Der Schauspieler kann zuletzt auch
beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person
und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst
beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und
dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler,
welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf,
Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer
gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt
natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben
Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht
der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn
Einer sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so wird es ihm
zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen,
sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von
Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen.
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Der, welcher immer
die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über
wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der
Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen
diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend. 52. Der Punct der Ehrlichkeit beim Betruge. - Bei allen grossen Betrügern
ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen,
dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der
wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der Glaube an sich selbst:
dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den
Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch
von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der
Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal
jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich
trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher
zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und jene
grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen,
was ersichtlich stark geglaubt wird. 53. Angebliche Stufen der Wahrheit. - Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse
ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die
Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ
an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht
zugeben, dass alles jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück
und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als
Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit
gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas
geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist,
wäre es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn
beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu
widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer
wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und
intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit. 54. Die Lüge. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen
Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten
hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert
Erfindung, Verstellung und Gedächtniss.
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(Wesshalb Swift sagt: wer eine
Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er
muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.)
Sodann: weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct
zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen;
also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als
der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen
Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich
die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse
entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an
sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller
Unschuld. 55. Des Glaubens wegen die Moral verdächtigen. - Keine Macht lässt sich
behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche
mag noch so viele "weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht
auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche
sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick
und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete,
vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschüttern die
Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es nöthig wäre, so zu
leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die
Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer
von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten
wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu
widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betrüge nicht!" - Nur die
Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz
der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man
gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der
Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht,
welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie
die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher
predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen
soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik
und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch
Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden. 56. Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse. - Es trägt Dem, der weise
werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal
die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt
zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze
Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben
sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet.
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Um uns zu begreifen,
müssen wir sie begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir
über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im
metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine
Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen
fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von
gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von
den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner
Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich
aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es
heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten
wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller
Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle
Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge
quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem
Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt
darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und
Lebensbetrachtungen. 57. Moral als Selbstzertheilung des Menschen. - Ein guter Autor, der
wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass jemand komme
und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher
darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das
liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an
der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er
für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle.- denn in
dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die
Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die
beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. - Sind
das Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität
Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unmöglich
und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen
Fällen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein
Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein
Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist
es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will
lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen
Schritt aus dem Wege gehn?" - Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb,
Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben,
mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral
behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum. 58.
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Was man versprechen kann. - Man kann Handlungen versprechen, aber
keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer jemandem
verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer
treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl
aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die
Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen
Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege
und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so
lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen;
liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen,
wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass
der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die
Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. - Man verspricht also
die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung
jemandem immerwährende Liebe gelobt. 59. Intellect und Moral. - Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um
gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der
Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an
die Güte des Intellects gebunden. 60. Sich rächen wollen und -sich rächen. -Einen Rachegedanken haben und
ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber
vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth,
ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an
Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die
Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man
den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche
die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind
kurzsichtig. 61. Warten-können. - Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten
Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv
ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles
im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine
Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen
hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den
schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen
geschlagen und zu sich gesprochen haben - wer hat denn nicht schon,
in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn
so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein
Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen.
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Die
Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer
liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit
ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei
Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. - Bei allen
Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die
betheiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall,
so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt:
"entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben,
oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren
Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger
leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt
werth ist. 62. Schwelgerei der Rache. -Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen,
pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und
erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem
einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu
können. 63. Werth der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten
Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im
Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen
bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu
verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es
sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren,
so -
64. Der Auf brausende. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man
sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben
getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit
der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns
geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen
der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu
bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre
Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen
zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen,
die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer
bewahrt. 65. Wohin die Ehrlichkeit führen kann. -Jemand hatte die üble
Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so
gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich
ganz ehrlich auszusprechen.
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Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht,
wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft
erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens
erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder
dasselbe zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine
Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen
will - sich selber - brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod. 66. Sträflich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht
darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. 67. Sancta simplicitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum
Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes
Bündchen Holz zu liefern. 68. Moralität und Erfolg. - Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen
häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge:
nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind
selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das
Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That
selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als
wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen
ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten
von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus
ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt
mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf
meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf
ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch
jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die
griechische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des
ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere
über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren
Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden
Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknüpft, das
Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben. 69. Liebe und Gerechtigkeit. - Warum überschätzt man die Liebe zu
Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr,
als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht
ersichtlich dümmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel
angenehmer für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn;
aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie
nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt.
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Sie ist unparteiisch
wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur
den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf
die Haut nass macht. 70. Hinrichtung. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr
beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche
Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt
wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft,
selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern,
Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, - ich meine die veranlassenden
Umstände. 71. Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete
es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein
schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen
all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen
sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein
einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug
Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für
immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was
für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift
darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes
Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält
das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, - es ist die
Hoffnung. - Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr
durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe,
sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt
er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der
Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert. 72. Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. - Daran, dass man
gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht
gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder
gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen
Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen
und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die
Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den
Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse
machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der
Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von welcher der niedere und höhere
Mensch abhängt, im Guten und Bösen. 73. Der Märtyrer wider Willen.
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- In einer Partei gab es einen Menschen,
der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu
widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm
Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen
mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmliche schwache
Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten
Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit
den Lippen immer ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die
Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner
alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er
wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als
Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird. 74. Alltags-Maassstab. - Man wird selten irren, wenn man extreme
Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche
auf Furcht zurückführt. 75. Missverständniss über die Tugend. - Wer die Untugend in Verbindung
mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige
Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der
Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und
Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und
das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte
einander gar nicht verstehen. 76. Der Asket. - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth. 77. Die Ehre von der Person auf die Sache übertragen. - Man ehrt allgemein
die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo
sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Schätzung der
Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder für welche man sich
aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein
tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft. 78. Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Gefühls. - Das moralische Gefühl
darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem
Erfolge. - Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz
abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren,
gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen. 79. Eitelkeit bereichert.
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- Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die
Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgefüllten und immer neu sich
füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast
können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige
Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen. 80. Greis und Tod.- Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion
stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen alt gewordenen
Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine
langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem
Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle
eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der
Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt
hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und
die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben
pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von
Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne
Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel
weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der
Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen
ein, welche in das Leben verliebt sind. 81. Irrthümer des Leidenden und des Thäters. - Wenn der Reiche dem
Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die
Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, jener müsse
ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber
jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so
tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in
die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht,
als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte
empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte
Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht
ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden,
wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross
ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel
ohne jeden Gewissensbiss.
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So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit
bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern),
wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt,
weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen
Heerzug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein
unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende
Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. Ja, jeder
Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte
glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das
Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit
dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche
Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen
von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben;
während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender
gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die
Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst. 82. Haut der Seele. - Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und
Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des
Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften
der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist die Haut der Seele. 83. Schlaf der Tugend. - Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer
aufstehen. 84. Feinheit der Scham. - Die Menschen schämen sich nicht, etwas
Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man
ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue. 85. Bosheit ist selten. - Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich
beschäftigt, um boshaft zu sein. 86. Das Zünglein an der Wage. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine
oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten
zu lassen. 87. Lucas 18,14 verbessert. - Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet
werden. 88. Verhinderung des Selbstmordes. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem
Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben
nehmen: diess ist nur Grausamkeit. 89. Eitelkeit.- Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil
sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen
(Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen
überhaupt allen übrigen Menschen). Nur wo jemandem die gute Meinung
der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem
Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit.
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- Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt
ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides
(in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten)
richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt
giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da
entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen
Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der
anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern
zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und
empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung
und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen
Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der
Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. -
Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen
Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu
sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht
erreichen?" - Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die
Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen
Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und
namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt
worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist
allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung
eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung
derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im
Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt,
nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der
aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe
des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch
sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen,
dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle
der Menschenwürde hingelagert habe. 93. Vom Rechte des Schwächeren. - Wenn sich jemand unter Bedingungen einem
Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die
Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und
so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht
hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt
werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. -
Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst
genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn
nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich soweit, als
Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und
dergleichen erscheint.
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In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch
Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris
habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere
creditur). 94. Die drei Phasen der bisherigen Moralität. - Es ist das erste Zeichen,
dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr
auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich
bezieht, dass der Mensch also nützlich, zweckmässig wird.- da bricht
zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere
Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt;
vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen
Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die
persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will
geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von
dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt
er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem
Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und
Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der
Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff
des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, das
Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem
persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder
Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als
Collectiv-Individuum. 95. Moral des reifen Individuums. - Man hat bisher als das eigentliche
Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und
es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen
Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte
und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser
Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass
gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für
das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche
Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen
Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in
Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen - das bringt
weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten
Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen
Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, -
gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von
ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen
zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert
werden müsste.
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Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten,
aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser
Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was
man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte,
rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen. 96. Sitte und sittlich.- Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam
gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe
oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass
man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer
Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess
ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren
Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er "wozu"
gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel
der Sitten immer als "gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so
nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen "gut". Böse
ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen
widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das
Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der
verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so
dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "böse" an die freiwillige
Schädigung des Nächsten denken. Nicht das "Egoistische" und das
"Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur
Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat,
sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie
das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls
ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten
kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung
einer Gemeinde, eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf
Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein
Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist
nämlich gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich als für
den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer
Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der
Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte
Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen
wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die
Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische
Handlungen verlangt. 97. Die Lust in der Sitte.
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- Eine wichtige Gattung der Lust und damit
der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das
Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust,
und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also
nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam,
förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten
Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und
des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald
der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sitten
durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte
Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes
einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit
einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben
seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie
gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann;
das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird
bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die
Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern
und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht
darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte
schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten
Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von
Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst
höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass
alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder
werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und
damit zur Lust werden kann. 98. Lust und socialer Instinct. - Aus seinen Beziehungen zu andern
Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen
Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er
das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den
Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie
mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den jungen. Sodann
gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen
ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen
lassen, und umgekehrt.
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Die Lustempfindung auf Grund menschlicher
Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame
Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem
Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den
Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher
Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust
erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu
sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter,
Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf:
dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden
Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale
Instinct aus der Lust heraus. 99. Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. - Alle "bösen"
Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch
genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des
Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz
bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen,
ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen
Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es
Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen
will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir
es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere
thun würden. - Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten
empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns
zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen
habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben
erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung
der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil
wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus
Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen
Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im
Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere
Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche
abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der
Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher
sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt
noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches
diess hindern kann.
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Es kann erst dann der Boden für alle Moralität
zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein
Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die
Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in
einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie
selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung
der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam,
endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und
Natürliche mit Lust verknüpft - und heisst nun Tugend. 100. Scham.- Die Scham existirt überall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess
aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der
menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es
umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt
versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz
räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten
nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst
empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse
übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche
als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der
Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu
deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen
Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst
desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben
Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So
ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt,
dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon
viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs
zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt
innerer Zustände, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch für alle
Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch,
als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt
wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham. 101. Richtet nicht. - Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer
Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die
Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung
von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn
damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet.
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Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet
vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen
fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes
Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine
Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten
fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im
Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte
diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren
Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden
zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam
behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben
gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie
dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere
bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier
ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit
hinter den Menschen zurückgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles
Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum
glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der
Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und
daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem
Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten
und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam
und hart, ohne es zu sein. - Der Egoismus ist nicht böse, weil die
Vorstellung vom "Nächsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs
und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und
wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und
unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und
völlig kann es nie gelernt werden. 102. "Der Mensch handelt immer gut." - Wir klagen die Natur nicht als
unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass
macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort
Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen
Umständen unmoralisch; man tödtet z.B. eine Mücke unbedenklich mit
Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher
absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu
schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu
erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid
thut; im zweiten der Staat.
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Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun
gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung
handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte genügen, um alle bösen
Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man
will für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne
handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben
Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst:
Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines
Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit. 103. Das Harmlose an der Bosheit. - Die Bosheit hat nicht das Leid des
Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel
als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei
zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und
es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das
Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist
Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns
in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen,
Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu
werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier
die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich
fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man
die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann
eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei
der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher
sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu
haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte
des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Folgen, auf
eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende
Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich
den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. -
Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie
gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt
mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer persönlichen Lust in
sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion,
welcher Art Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That
treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht.
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Steht uns
überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Ausübung
mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von
einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der
Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit
Recht. 104. Nothwehr.- Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt,
so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen
Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um
sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil
vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der
Selbsterhaltung sind. Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere
Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt,
wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem
Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen
kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nicht
um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der
Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist
sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht
boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein
Spielzeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem
Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor
Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so
würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo
wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden,
der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir schliessen aus
Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung
und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und
dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes
hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der
Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber
eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen
starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden
des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen
Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben;
der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben.
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Ob der Einzelne
diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie
ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit
seines Intellects. 105. Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollständig die Lehre von der
völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte
strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den
Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht,
dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird,
verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um
fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der,
welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders
handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer
Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein
Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen,
nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind
Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus
Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch
auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt
nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise
straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht
schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen
die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu
gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen
erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob
am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe
Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit. 106. Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den
zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit
des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig,
jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den
menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher
ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt
der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst
steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick
das Rad der Welt still stände und ein allwissender, rechnender
Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die
fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur
bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des
Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit
hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus. 107. Unverantwortlichkeit und Unschuld.
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- Die völlige Unverantwortlichkeit
des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste
Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war,
in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines
Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen,
Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes
Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem
Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist
ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So
wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für
sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den
Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft,
Schönheit, Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin
finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual
des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste,
als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch
verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich
für das mächtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis
das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so
hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in
denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen
Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens
des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind
vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums
nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen)
befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er
kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache,
Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung,
des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit
entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt;
fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung
der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der
Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend,
viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad
der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war.
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Ja,
in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm,
denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht
werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird,
bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt
und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen
zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt
vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber
darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er
zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das
Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit
fähig sind - wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch
gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise
Menschheit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft
ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener
Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben
einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles
ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese
Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die
Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust,
Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene
und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit
der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das
einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem
Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte -
wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn
er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem
Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im
Flusse, es ist wahr: - aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele
hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens,
Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss
der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue
Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens,
Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden
an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein,
um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen
(unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie
sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen - das
heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem -
hervorbringt. Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben. 108.
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Der doppelte Kampf gegen das Uebel. -Wenn uns ein Uebel trifft, so
kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine
Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere
Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in
ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich,
auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung
unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des
Satzes: "wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils durch Erweckung
einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des
Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt,
umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des
Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung
und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich
ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der
Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen
die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was
freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt - denn zur Tragödie
findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen,
unbezwinglichen Schicksals immer enger wird -, noch schlimmer aber
für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung
menschlicher Uebel. 109. Gram ist Erkenntniss. - Wie gern möchte man die falschen Behauptungen
der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte,
Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens
sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, - wie gern
möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam,
beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer! Doch solche
Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens
wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls
Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man
jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man
die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits
durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend
geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu
haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der
erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen
Versen aus:
Sorrow is knowledge: they who know the most
must mourn the deepst o'er the fatal truth,
the tree of knowledge is not that of life.
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Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen
Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und
Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich
selber zu sagen:
quid aeternis minorem
consiliis animum fatigas? cur non sub alta vel platano vel hac
pinu jacentes -
Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser,
als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das
Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach
dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr
einlassen, ohne sein in intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen
und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich
genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und
Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen
möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte! 110. Die Wahrheit in der Religion. - In der Periode der Aufklärung war man
der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu
zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden
Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die
Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst
mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes,
ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die
Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann
in unmythischer Form die "Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen
also - diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung - sensu
allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte
Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle
wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr
weg, geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit
und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und
ein Fortschritt der Erkenntnisse - falls man von einem solchen reden
wolle - sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben
beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist
durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich
zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in
Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem
Menschenalter ihre Hörer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus
Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr
viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen
gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den Werth der
Religion für die Erkenntniss sich geirrt hat.
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Er selbst war darin ein
nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit,
welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung
abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er
unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er
würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte,
mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch
unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit
enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede
geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein
geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung
durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System
hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein
Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an
sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich
im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie
durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf
jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr
aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich er Halbwesen, der
dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle
die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen
des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen
religiösen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau
ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter
dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der
altvererbten Macht jenes "metaphysischen Bedürfnisses" philosophirten,
so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen
oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich
sahen, - ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen,
nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft
klar waren, wie diess wohl vorkommt, - sondern in der Unschuld ihrer
Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und
Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und
der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft,
noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede
Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit
ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich
verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist diess Alles
vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der
Wissenschaft.
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- Uebrigens: wenn alle Völker über gewisse religiöse
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was,
beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so
würde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus
gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit
gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht,
in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der
Goethe'sche Vers spricht:
Alle die Weisesten aller der Zeiten
lächeln und winken und stimmen mit ein:
Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! Kinder der Klugheit, o habet die Narren
eben zum Narren auch, wie sich's gehört! Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der
consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer
Narrheit gilt. 111. Ursprung des religiösen Cultus'. - Versetzen wir uns in die Zeiten
zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so
finden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr
theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen
Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr
mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen;
weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine
Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch
ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der natürlichen
Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff
bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche
man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen,
der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei
Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom
"natürlichen Hergang" fehlt, - sie dämmert erst bei den älteren
Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der
Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem
Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft
dabei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an
unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss
es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal
niedersinkt.
| 2,342 |
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In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem
Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen;
ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die
Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter
seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung
religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender
Wesen, ein ungeheurer Complex von Willkürlichkeiten. Es ist in Bezug
auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend
Etwas so und so sein werde, so und so kommen müsse; das ungefähr
Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel, die Natur
die Regellosigkeit, - dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche
rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen
empfinden gerade völlig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich
innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger
wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe
in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne
Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht
nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses
Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst
erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe,
frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden
in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Gesetz, das
Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe
gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm
muss die Natur - die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle
Natur - als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht
erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins,
als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände,
wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück,
das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen
abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten,
andere zur rechten Zeit ausbleiben.
| 2,136 |
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Wie kann man einen Einfluss auf
diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der
Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt
es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und
Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? - Das
Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der
Natur ein Gesetz auf zulegen -: und kurz gesagt, der religiöse Cultus
ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene
Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie
kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze dictiren, ihn
bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? Man
wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes
Zwanges, den man ausübt, wenn man jemandes Neigung erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung
zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte
Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur
einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe
bindet und wird gebunden. Dann kann man Verträge schliessen, wobei
man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder
stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung
gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit
Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und
ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt,
so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur
bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man
Etwas in Gewalt bekommt, das jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel,
etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit
solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung
lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe
vermag man den Geist zu binden, zu Schädigen, zu vernichten; das
Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen
kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch
irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an
dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim,
aus dem er entstand, - dieses räthselhafte Nebeneinander scheint
zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist
eingekörpert habe, bald klein, bald gross.
| 2,431 |
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Ein Stein, der plötzlich
rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer
Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken,
die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst
hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles,
was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die
Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann
man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung,
Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausüben. Die
geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes
zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit
Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch
Lehm- und Düngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir
liessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich
hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist
du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und
Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel
ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses
Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. - Durch alle diese
zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzählige Ceremonien in's
Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross
geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren,
so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der
Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen
entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem
Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit
einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen
Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu
schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der
Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter,
als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren
Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu
Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender,
von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von
Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus.
| 2,334 |
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Der Mensch steht auch in
sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave
gegenüber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben:
auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den
olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten,
einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken;
aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind
Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist
das Vornehme in der griechischen Religiosität. 112. Beim Anblick gewisser antiker Opfergeräthschaften. - Wie manche
Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung
des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu
sehen: die Empfindung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet,
wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den
Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und
Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit
dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen
verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr
verstehen wird. 113. Christenthum als Alterthum. - Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten
Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! diess
gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte,
er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. -
Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion
ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene
Behauptung glaubt, - während man sonst so streng in der Prüfung von
Ansprüchen ist -, ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein
Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der
auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber
auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine
Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer
annimmt; jemand, der seine jünger sein Blut trinken heisst; Gebete
um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott
gebüsst; Furcht vor einem jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist;
die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die
Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, - wie
schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter
Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt
wird? 114. Das Ungriechische im Christenthum. - Die Griechen sahen über sich die
homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als
Knechte, wie die Juden.
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Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der
gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen
Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es
besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch
denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt
sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum höheren
ist; während die italischen Völker eine rechte Bauern-Religion haben,
mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber
und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war auch
das griechische Leben düsterer und ängstlicher. - Das Christenthum
dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit
liess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens
hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen
Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen
Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des
Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken
alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will
vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht:
das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch,
asiatisch, unvornehm, ungriechisch. 115. Mit Vortheil religiös sein. - Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige
Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums
angestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es
verschönert sie. - Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein
Waffenhandwerk verstehen - Mund und Feder als Waffen eingerechnet -
werden servil: für solche ist die christliche Religion sehr nützlich,
denn die Servilität nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend
an und wird erstaunlich verschönert. - Leute, welchen ihr tägliches
Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist
begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität
von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig
verfliesst. 116. Der Alltags-Christ. - Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom
rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und
der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein
Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester,
Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am
eigenen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen
die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen.
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Vorausgesetzt,
dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine
erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei
zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen
Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu
werden, als das Christenthum ihm verheisst. 117. Von der Klugheit des Christenthums. - Es ist ein Kunstgriff des
Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und
Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die
Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. "Er mag
sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich
von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich
ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen
spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine
individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt
und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art. 118. Personenwechsel. - Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu
ihren Gegnern, welche ihre ersten jünger gewesen wären. 119. Schicksal des Christenthums. - Das Christenthum entstand, um das Herz
zu erleichtern; aber jetzt müsste es das Herz erst beschweren, um es
nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen. 120. Der Beweis der Lust. - Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen:
diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis
der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie
sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte,
so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein! 121. Gefährliches Spiel. - Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in
sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht
anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem
religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des
Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten
überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich
also in Acht. 122. Die blinden Schüler. - So lange Einer sehr gut die Stärke und,
Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist
deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die
Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat,
geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen
ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht, als der Meister.
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Ohne die
blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines
Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst
oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht
der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt. 123. Abbruch der Kirchen. - Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um
die Religionen auch nur zu vernichten. 124. Sündlosigkeit des Menschen. - Hat man begriffen, "wie die Sünde in
die Welt gekommen" ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge
deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst
für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist,
so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt
erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem
von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur
immer das Kind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren
beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es
sich immer wieder im Paradiese. 125. Irreligiosität der Künstler. - Homer ist unter seinen Göttern so zu
Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er
jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der
Volksglaube ihm entgegenbrachte - einen dürftigen, rohen, zum Theil
schauerlichen Aberglauben - verkehrte er so frei, wie der Bildhauer
mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus
und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit
die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe
auszeichneten. 126. Kunst und Kraft der falschen Interpretation. - Alle die Visionen,
Schrecken, Ermattungen, Entzückungen des Heiligen sind bekannte
Krankheits-Zustände, welche von ihm, auf Grund eingewurzelter
religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders, nämlich
nicht als Krankheiten, gedeutet werden. - So ist vielleicht auch das
Dämonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemäss seiner
herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt
geschehen würde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und
Wahnreden der Propheten und Orakelpriester; es ist immer der Grad
von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der
Interpreten, welcher daraus so viel gemacht hat. Zu den grössten
Wirkungen der Menschen, welche man Genie's und Heilige nennt, gehört
es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der
Menschheit missverstehen. 127. Verehrung des Wahnsinns.
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- Weil man bemerkte, dass eine Erregung
häufig den Kopf heller machte und glückliche Einfälle hervorrief, so
meinte man, durch die höchsten Erregungen werde man der glücklichsten
Einfälle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den
Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein
falscher Schluss zu Grunde. 128. Verheissungen der Wissenschaft. - Die moderne Wissenschaft hat als
Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich, -
also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im
Vergleich mit den Verheissungen der Religionen. 129. Verbotene Freigebigkeit. - Es ist nicht genug Liebe und Güte in der
Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu dürfen. 130. Fortleben des religiösen Cultus' im Gemüth. - Die katholische Kirche,
und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von
Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt
wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen
Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde
Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer
priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die
Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn
eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche
als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen
dunklen Räumen das Sich-Regen derselben fürchten lässt, - wer wollte
solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen
dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind
trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten,
ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den
Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt
davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und
blühte, gross gezüchtet. 131. Religiöse Nachwehen. - Glaubt man sich noch so sehr der Religion
entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass
man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne
begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn
eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen,
von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und
zum Beispiel von "dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen
bei Rafael" spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen
mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier
leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem
Herzen, welches gern nehmen will.
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Daran bemerkt man, wie die weniger
bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen,
aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es thut
ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. -
Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht
auf Grund jenes Bedürfnisses - eines gewordenen und folglich auch
vergänglichen Bedürfnisses - Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker
sprechen von "Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel
von der Ahnung, "dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch
verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten
und solchen" geahnten" Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass
jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger
beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise giebt, aber er
wünscht die Speise. "Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in
irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten,
insofern man sie wünscht oder fürchtet; die "Ahnung" trägt keinen
Schritt weit in's Land der Gewissheit. - Man glaubt unwillkürlich, die
religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen,
als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den
inneren Wunsch, dass es so sein möge, - also dass das Beseligende auch
das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute
einzukaufen. 132. Von dem christlichen Erlösungsbedürfniss. - Bei sorgsamer Ueberlegung
muss es möglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen,
welchen man Erlösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen,
die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt
sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und
Vorgänge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende
Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn
bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters,
Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen
Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen;
als welche in der psychologischen Analysis der religiösen "Thatsachen"
einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen
sollten. Unbeirrt von solchen Vorgängern, wagen wir folgende Auslegung
des bezeichneten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen
bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief
stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen,
der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint.
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Wie
gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen,
welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten
anerkannt sind, wie gerne fühlte er sich voll des guten Bewusstseins,
welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es
eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht
genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit
hinzu, welche sein Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener
böse genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe
Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese,
und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. - Dieser Zustand würde
nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen
Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit
sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben
nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und
Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches
allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden,
und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt,
mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint
ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt
ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende
Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen
und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu
erkennen, ja die Geisselschläge seines Richter- und Henkerthums schon
vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den
Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässlichkeit
alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet? 133. Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen,
wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand
nicht durch seine "Schuld" und "Sünde", sondern durch eine Reihe von
Irrthümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels
war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth
vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk
der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein
Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre,
noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deutlich nicht einmal
vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff "unegoistische
Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt.
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Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie
jener Gott, Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu thun,
zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er sehr
viel für sich thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu
können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um
jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen:
so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem
Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben,
und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die
Existenz der Unmoralität erzwingen müsste (wodurch sie sich freilich
selber aufheben würde). - Weiter. die Vorstellung eines Gottes
beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber
wie sie entstanden ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der
völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der
Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem
Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem
Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die
Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der
Maassstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's
Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so
auch das Gefühl der "Sünde" als eines Vergehens gegen göttliche
Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit
der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der
Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth
der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist
immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine
Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen
und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das "ewige Heil
der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es
dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der
unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen
Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen,
so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen. 134.
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Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthümer in das
Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche
unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen,
so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der
Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält,
wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele
weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit
hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im
Bunde mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung, den
Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, - aber
gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung, kommt ihm unglaublich
vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines
Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen
Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des
göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine
Erfahrungen die göttliche Güte hinein: diess Ereigniss kommt ihm
liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und
namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott
gnädig sei. Wie er früher im Zustande des Unmuthes namentlich seine
Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse;
die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm
waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst
liebt, erscheint als göttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel
der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung. 135. Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von
Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die
nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das
Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung
der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein. 136. Von der christlichen Askese und Heiligkeit. - So sehr einzelne Denker
sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität,
welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding
hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in's
Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark
ist hinwiederum die Verführung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb
der Natur hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen
überhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie früher
gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen
die behauptete Unerklärbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache
zu erheben.
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Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen
sind immer noch unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten
Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen: das
Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus
unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein, - so lautet die Forderung
in den Seelen aller Religiösen und Metaphysiker (auch der Künstler,
falls sie zugleich Denker sind); während der wissenschaftliche Mensch
in dieser Forderung das "böse Princip" sieht. - Die allgemeine erste
Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und
Heiligkeit zuerst geräth, ist diese, dass ihre Natur eine complicirte
ist: denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in
der moralischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das
Complicirte und mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also,
einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu
isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken. 137. Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu dessen sublimirtesten
Aeusserungen manche Formen der Askese gehören. Gewisse Menschen
haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht
auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es
ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse
Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer
selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten,
welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu
verbessern; mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf
sich herab, während er es leicht hätte, durch Stillschweigen ein
geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen frühere Meinungen
und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden: im
Gegentheil, sie bemühen sich darum und benehmen sich wie übermüthige
Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss
bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch
auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine
Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so
bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und
Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste
verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über
die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so
viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat
eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu
vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele
nachher zu vergöttern.
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In jeder asketischen Moral betet der Mensch
einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen
Theil zu diabolisiren. -
138. Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist
bekannt: beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser
aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd
und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am
moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar,
welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal fähig
zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft
alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine
ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu
einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines
Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflusse der
gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und
wenn er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso
oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so wählt er
sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion;
da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere
der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der
Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege,
musste der Menschheit erst in langer Gewöhnung anerzogen werden;
eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und
wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des
schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines
Affectes, - als Diess erscheint diese Verleugnung; und insofern gilt
sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei
ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, während
das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand, behält. Ernüchterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität
jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene
miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der
Affect und das Verständniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind
auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern
sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt
der Andere dem hochgespannten Gemüthe nur eine Gelegenheit, sich zu
erleichtern, durch jene Verleugnung. 139.
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In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu
machen, und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter
einen fremden Willen oder unter ein umfängliches Gesetz und Ritual;
etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen
Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige
Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um
über sich Herr zu werden; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile,
und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft
dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und
damit die Qual der Reue. Man hat ein für alle Mal auf eigenen Willen
verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal
zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu
entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen
Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass
der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige
also erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit
sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen das
höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle
schwerer, seine Persönlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit
durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen;
überdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken. 140. Nachdem ich, in vielen der schwerer erklärbaren Handlungen,
Aeusserungen jener Lust an der Emotion an sich gefunden habe, möchte
ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der
Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen der Selbstquälerei
(durch Hunger und Geisselschläge, Verrenkungen der Glieder,
Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene
Naturen gegen die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer
Nerven) ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel
und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und
Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz
und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so
häufig verfallen lässt. 141. Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet,
um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend zu machen,
besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg
und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem
sogenannten "inneren Feinde".
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Namentlich nützt er seinen Hang zur
Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden
aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein
Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit
wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie
durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt,
ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung
im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen
Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener
Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen
wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei;
diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer
Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in
irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie
gesagt, ihr ödes Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig
genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den
Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr
verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammnis
wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchstwahrscheinlich durch
ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder
zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan
worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe:
was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das
Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in Sünden empfangen und geboren,
und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte
sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen,
so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem
bekannten Verse:
die grösste Schuld des Menschen
ist, dass er geboren ward. In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht
an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine
allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller
Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar
Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen
Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine
einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt
ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern
einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde. Die
christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse
daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten
für die Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer
lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen
Bekämpfung und Ueberwältigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer
von Neuem wieder als halb unbegreifliche, übernatürliche Wesen
darstellten.
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Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise
und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so
verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu
sehen. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth
unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut, wie der Wechsel von Begierde
und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche
nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisseln, zu
kreuzigen; man wollte sich möglichst schlecht und böse finden, man
suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen
Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des
Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt
in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die
Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich
selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine
Träume bekommen einen Beigeschmack des gequälten Gewissens. Und doch
ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig
unbegründet: es ist nur die Folge von Meinungen über die Dinge. Man
erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie
das unvermeidlich-Natürliche als schlecht bezeichnen und später immer
als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und
jener Metaphysiker, welche den Menschen als böse und sündhaft von
Natur wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht
zu machen: denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das
Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählich fühlt er sich,
bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von
Sünden bedrückt, dass übernatürliche Mächte nöthig werden, um
diese Last heben zu können; und damit ist das schon besprochene
Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner
wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden
des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die
Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen
könne; die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass
er sich möglichst sündhaft fühle.
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Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht
angenehm gewesen wäre, - wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt
und sich so lange an sie gehängt? Wie in der antiken Welt eine
unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist,
um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der
Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern
Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich
sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis - ist das nicht das
Losungswort einer erschlafften, überreifen, übercultivirten Zeit? Der
Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die
Seele war ihrer müde geworden: da erfanden der Heilige und der Asket
eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller
Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für Viele, sondern als
schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen
Gränzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann
damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe
lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen,
hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen
Erdenlebens, auf die Nähe der letzten Entscheidung über endlose neue
Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten
Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen
erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des
Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die
Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, - das war die letzte Lust,
welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst gegen den Anblick von
Thier- und Menschenkämpfen stumpf geworden war. 142. Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, dessen sich
der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen
zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter
dem Einfluss anderer als religiöser Vorstellungen anders gefärbt
zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren
pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter
Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen
dürfen, - mindestens in früheren Zeiten rechnen durften.
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Bald übt der
Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der
Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht
giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen,
seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Verlangen,
sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen
Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller
störenden, quälenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf,
ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und
pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn
in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält:
er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und
Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden,
an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des
Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der
äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den
der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch
diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es
ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen
gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er
begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen
Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in
Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze
Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: "Es ist wunderbar genug, dass
nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit
die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und
gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."
143. Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der
Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände
falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als
etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches:
dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die
Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er
selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftzüge seiner
Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation,
welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische
Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur,
mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen,
verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso
wie dem seiner Beschauer verborgen.
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Er war kein besonders guter
Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeutete
Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und
Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen
bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze
einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker
hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure:
ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht
mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den
Heiligen glauben. 144. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen,
welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche
Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere
Empfindung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen jener
Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und
Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher
Thatkraft; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte
Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es
zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist,
der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich
sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung - die man nicht zu
hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen
wimmelt - das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit,
völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft
Jedermann sich erwerben kann. - Ebenfalls habe ich abgesehen von
den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem
christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und
insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die
Wissenschaft - soweit es eine solche gab -, die Erhebung über die
anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens
wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso
gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als
Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden. Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller. 145. Das Vollkommene soll nicht geworden sein. - Wir sind gewöhnt, bei
allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern
uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag
aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch
unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung.
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Es
ist uns beinahe noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen
Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus
solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als
ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und
nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur
voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine
wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er
wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten
Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens
beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um
die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das
plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. - Die Wissenschaft
der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht,
auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und
Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem
Künstler in das Netz läuft. 146. Der Wahrheitssinn des Künstlers. - Der Künstler hat in Hinsicht auf
das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität, als der Denker;
er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens
durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte
Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde
und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine
Kunst wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das
Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das
Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas
Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des
Schaffens für wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das
Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht. 147. Die Kunst als Todtenbeschwörerin. - Die Kunst versieht nebenbei
die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene
Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese
Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren
Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über
Gräbern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter
Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst
vergessenen Tacte.
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Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens
der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in
den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden
Vermännlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder
ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf
welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der
ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer
Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu
verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit. 148. Dichter als Erleichterer des Lebens. - Die Dichter, insofern auch sie
das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder
von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch
ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen
Farben. Um diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten
rückwärts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz
fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen
Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich
immer und nothwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln
zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie
beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick;
sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung
ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der
Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch
entladen. 149. Der langsame Pfeil der Schönheit. - Die edelste Art der Schönheit
ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische
und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel),
sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich
fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber,
nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns
ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehnsucht
füllt. - Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach,
schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. -
Aber das ist ein Irrthum. 150. Beseelung der Kunst. - Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen
nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter
Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber
tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung
mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.
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Der zum Strome
angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus
und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat
die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen
eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der
religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen
auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere
Färbung wahrnimmt darf man vermuthen, dass Geistergrauen,
Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind. 151. Wodurch das Metrum verschönert. - Das Metrum legt Flor über die
Realität; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes und
Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken
wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist,
um zu verschönern, so ist das "Dumpfe" nöthig, um zu verdeutlichen. -
Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie
den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt. 152. Kunst der hässlichen Seele. - Man zieht der Kunst viel zu enge
Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im
Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in
den bildenden Künsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine
Kunst der hässlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele; und die
mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und
Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten
gelungen. 153. Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. - Wie stark das
metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den
Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch
im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat,
die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange
verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei
es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie
Beethoven's sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt,
mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um
ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er
sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich
im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene
Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In
solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe
gestellt. 154. Mit dem Leben spielen.
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- Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der
homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche
Gemüth und den überscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen
und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe
und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber
sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen
Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen
als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema,
über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten, dass
einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden könne. Zur
Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren,
so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug
und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an
der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten
Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln. 155. Glaube an Inspiration. - Die Künstler haben ein Interesse daran, dass
man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen
glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke
einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In
Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers
fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine
Urtheilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft
zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven's ersieht,
dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus
vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng
scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der
wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können; aber die
künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und
mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter,
unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten,
Umgestalten, Ordnen. 156. Nochmals die Inspiration. - Wenn sich die Productionskraft eine Zeit
lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert
worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguss, als ob
eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten,
also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung
aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler
ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur angehäuft,
es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch
anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der
Güte, der Tugend, des Lasters. 157.
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Die Leiden des Genius' und ihr Werth. - Der künstlerische Genius will
Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so
fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will
sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes
Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen
zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das
tragisch sein? - Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation
für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen
Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man
empfindet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter,
sein Mund beredter ist; und in mitunter sind seine Leiden wirklich
sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross
ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich
nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und
Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit
auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während
ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt,
bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen Fällen,
- dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des
Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen - kommt zu den
erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als
die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser-
und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten
Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren
Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen
Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). - Aber
welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Aechtheit? Ist
es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von
Empfindungen dieser Art bei sich reden? 158. Verhängniss der Grösse. - Jeder grossen Erscheinung folgt die
Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des
Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen
oder zum Ueberbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das
Verhängnissvolle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu
erdrücken und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der
glücklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass
mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem
Kampfe wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft
und Licht gegönnt. 159. Die Kunst dem Künstler gefährlich.
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- Wenn die Kunst ein Individuum
gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher
Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann
zurückbildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der
plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die
Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen,
wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller
Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar diess mit
der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der
Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch,
dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht
zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen
Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den
Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt
lebten und starben. 160. Geschaffene Menschen. - Wenn man sagt, der Dramatiker (und der
Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist diess eine
schöne Täuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung
die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe
feiert. In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen
Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflächlich, wenn wir
ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr
unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem
er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen macht (in diesem Sinne
"Schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es
ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Künstler;
es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern ähnlich wie
die gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick
aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen
lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker
geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so
ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar
Nothwendiges (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir
erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das
Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen,
welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen,
unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft
wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten
und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen.
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Sie
sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen
Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen
ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für
das Ganze zu nehmen. - Dass gar der Maler und der Bildhauer die "Idee"
des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man
wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom
menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der
innere Leib gehört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will
Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst
nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute
ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen über
sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker
und Philosophen da. 161. Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler und Philosophen. - Wir Alle
meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen,
wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst unsere
eigene Güte in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der
Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen
und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener
nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und
durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft über
ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit
eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben
an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der
Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die
Unfehlbarkeit unseres Urtheils, während Urtheil oder Empfindung oder
beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein
können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer
Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glück,
welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas für
die Vernünftigkeit dieser Idee beweist. 162. Cultus des Genius' aus Eitelkeit. - Weil wir gut von uns denken,
aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf
eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines
Shakespeare'schen Drama's machen könnten, reden wir uns ein, das
Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltener Zufall,
oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von Oben.
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So
fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius':
denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum,
verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare
seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses
erinnern mag: "die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen
Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die
Thätigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes
von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen
oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese
Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt,
deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff
benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer
zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der
Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch
Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es
immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit
des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's:
aber keine ist ein "Wunder." - Woher nun der Glaube, dass es allein
beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie
"Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas
zuschreibt, mit dem sie direct in's "Wesen" sehen!) Die Menschen
sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen
des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht
Neid empfinden wollen. Jemanden "göttlich" nennen heisst "hier
brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene
wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. Nun kann Niemand beim
Werke des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein
Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas
abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken
an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial,
nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene
Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft. 163. Der Ernst des Handwerks. - Redet nur nicht von Begabung, angeborenen
Talenten! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig
begabt waren.
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Aber sie bekamen Grösse, wurden "Genie's" (wie man
sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet,
der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen
Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden,
bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit
dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen
hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum
Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu
geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man
hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt "ich habe nicht genug Talent". Man
mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als
zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin
nothwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es
lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei
unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere,
man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit
scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man
reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner, man excerpire sich
aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen
macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive
der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der
Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag
und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn Jahre
vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf
auch hinaus in das Licht der Strasse. - Wie machen es aber die
Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit
und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen
Gründen. - Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen
solchen künstlerischen Lebensplan zu gestalten, übernimmt das
Schicksal und die Noth die Stelle derselben und führt den zukünftigen
Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks. 164. Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius'. - Der Glaube an grosse,
überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig
noch mit jenem ganz- oder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass
jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare
Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf
ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen Menschen.
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Man
schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt,
gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt,
dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses
wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über
Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche
der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann man vielleicht zugeben,
dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern
diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister,
ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin
und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der
Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für
das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es
ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener
Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte
Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder;
wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte
bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich
für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen
sind: das Gefühl der Unverantwortlichkeit, der exceptionellen Rechte,
der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige
Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn
niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu
setzen. Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben,
fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der
anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und
macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm
gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich
nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur
Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen
Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände
hinzutraten - also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung
zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer
Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig
darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche Wirkung zu
machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines
halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat
man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie
die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass
übernatürliche Führer vor ihnen her giengen.
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Ja, es erhebt und
begeistert die Menschen, jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte
zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten
Segnungen über die Menschen gebracht. - In einzelnen seltenen Fällen
mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch
welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest
zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die
Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich
Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem "Genie", das an seine
Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das "Genie" alt
wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen
sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und
durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen
Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen
heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast
wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und
Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde. 165. Das Genie und das Nichtige. - Gerade die originellen, aus sich
schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz
Leere und Schaale hervorbringen, während die abhängigeren Naturen,
die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute
stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die
Erinnerung ihnen keine Hülfe: sie werden leer. 166. Das Publicum. - Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht
mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können;
der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an
den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der
Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter
Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung
zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit
alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen
dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss
nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering. 167. Artistische Erziehung des Publicums.
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- Wenn das selbe Motiv nicht
hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das
Publicum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber
zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in
der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das
Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz
der Neuheit, der Spannung mehr empfindet. 168. Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. - Der Fortgang von
einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur
die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang
mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal
jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe
seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener
Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn
wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell
abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es
ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die
in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt. 169. Herkunft des Komischen. - Wenn man erwägt, dass der Mensch manche
hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht
zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn
kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später,
in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem
Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht
wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That,
wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen
wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde,
zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, - der
Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden
Uebermuth nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des
Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in
grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde
Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es
viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht
viel öfter, als dass man erschüttert ist. 170. Künstler-Ehrgeiz. - Die griechischen Künstler, zum Beispiel die
Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne
Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem
Genius die Flügel.
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Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr
Werk die höchste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte,
sowie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf
einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das
Vortreffliche an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und
Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter
erzogen hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche
sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler
nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie
wollen wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von Aussen her
Zustimmung zu dieser eigenen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier "sich überlegen machen und wünschen, dass
es auch öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das
Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das
Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von Stolz. 171. Das Nothwendige am Kunstwerk. - Die, welche so viel von dem
Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler
sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus
Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum
Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas
Lässliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine
Züge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein
Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnügen,
morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da,
denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche
die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des
Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden. 172. Den Meister vergessen machen. - Der Clavierspieler, der das Werk eines
Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er
den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine
Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine
Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben
erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers für
sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und
Narrheiten des "Virtuosenthums". 173. Corriger la fortune.
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- Es giebt schlimme Zufälligkeiten im Leben
grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein
bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum
Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der
grossen B-dur) nur den ungenügenden Clavierauszug einer Symphonie zu
hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der
Grossen nachträglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun
würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene,
dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte. 174. Verkleinern. - Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen
es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die
Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse
nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines
die Vergrösserung verträgt; wesshalb es Biographen immer noch eher
gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen
kleinen gross. 175. Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. - Die Künstler verrechnen
sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer
Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht
mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des
Künstlers, durch sein Kunstwerk in - eine "Heiligkeit" der Empfindung,
welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. - Ihre Sinnlichkeit fängt
vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen
sich also höchstens an Einem Puncte. 176. Shakespeare als Moralist. - Shakespeare hat über die Leidenschaften
viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen
sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse
Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darüber zu reden,
sondern legte die Beobachtungen über die Passionen den passionirten
Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen
so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen
und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. - Die
Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende
Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als
solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde
Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener
Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu
fern und zu fein, also unwirksam sind. 177. Sich gut zu Gehör bringen. - Man muss nicht nur verstehen, gut zu
spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen.
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Die Geige in
der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn
der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stümper
verwechseln. 178. Das Unvollständige als das Wirksame. - Wie Relieffiguren dadurch so
stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind,
aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgend wodurch gehemmt,
Halt machen: so ist mitunter die reliefartig unvollständige
Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als
die erschöpfende Ausführung: man überlässt der Arbeit des Beschauers
mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor
ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss
selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin
hinderlich war. 179. Gegen die Originalen. - Wenn die Kunst sich in den abgetragensten
Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst. 180. Collectivgeist. - Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen
eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde. 181. Zweierlei Verkennung. - Das Unglück scharfsinniger und klarer
Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen
keine Mühe zuwendet: und das Glück der unklaren, dass der Leser
sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute
schreibt. 182. Verhältniss zur Wissenschaft. - Alle Die haben kein wirkliches
Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, für sie
warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben. 183. Der Schlüssel. - Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum
Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn
ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für jene nicht mehr, als
ein Stück alten Eisens. 184. Unübersetzbar. - Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an
einem Buche, was an ihm unübersetzbar ist. 185. Paradoxien des Autors. - Die sogenannten Paradoxien des Autors, an
welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des
Autors, sondern im Kopfe des Lesers. 186. Witz. - Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Lächeln. 187. Die Antithese. - Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich
am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht. 188. Denker als Stilisten. - Die meisten Denker schreiben schlecht, weil
sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken
mittheilen. 189. Gedanken im Gedicht.
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- Der Dichter führt seine Gedanken festlich
daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewöhnlich desshalb, weil diese zu
Fuss nicht gehen können. 190. Sünde wider den Geist des Lesers. - Wenn der Autor sein Talent
verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die
einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er nämlich
Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen:
aber in der Art, wie man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder
aufzurichten wissen. 191. Gränze der Ehrlichkeit. - Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfällt
ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will. 192. Der beste Autor. - Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt,
Schriftsteller zu werden. 193. Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. - Man sollte einen
Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den
seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das wäre
ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Bücher. 194. Die Narren der modernen Cultur. - Die Narren der mittelalterlichen
Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die selbe Gattung
Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur
dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu
mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser
Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der
Fürsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in
Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit
im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt). Der ganze
moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es
sind die "Narren der modernen Cultur", welche man milder beurtheilt,
wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schriftstellerei
als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art
Tollheit gelten. 195. Den Griechen nach. - Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im
Wege, dass alle Worte durch hundertjährige Uebertreibung des Gefühls
dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur,
welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei)
der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls
und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen; worin uns
die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das
Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn
sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch
zu excentrisch gefühlt. Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte,
Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Gränze hinab, überhaupt
An-sich-halten des Gefühls und Schweigsamkeit, - das kann allein
helfen.
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- Diese
Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon
manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. -
Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht? 199. Das Unvollständige als künstlerisches Reizmittel. - Das Unvollständige
ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der
Lobrede: für ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende
Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der
Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel
die gegenüberliegende Küste, also die Begränztheit des zu lobenden
Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines
Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess
immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der
vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu
übersehen. Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend. 200. Vorsicht im Schreiben und Lehren. - Wer erst geschrieben hat und die
Leidenschaft des Schreibens in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was
er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch
mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den
Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum
eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes
noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl
seiner Schüler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie
lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens
und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat. 201. Schlechte Schriftsteller nothwendig. - Es wird immer schlechte
Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack
der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr
Bedürfniss wie die reifern. Wäre das menschliche Leben länger, so
würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder
mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber
sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel
mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren
überdiess, mit der grösseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung
ihres Bedürfnisses, und sie erzwingen sich schlechte Autoren. 202. Zu nah und zu fern.
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- Der Leser und der Autor verstehen sich häufig
desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe
langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu
Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie
leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden. 203. Eine verschwundene Vorbereitung zur Kunst. - An Allem, was das
Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil:
diese war eben eine Kunstübung, während alle anderen Beschäftigungen
nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen,
ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher
Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch
den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken fördern, so ist es gewiss
besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also
zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere
sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen
und nicht auf selbständiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose
Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen
Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene
Feinheit des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer modernen
Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man
sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken);
aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und
Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem
einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis. 204. Dunkles und Ueberhelles neben einander. - Schriftsteller, welche im
Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen,
werden im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten, übertriebensten
Bezeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht eine
Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen. 205. Schriftstellerisches Malerthum. - Einen bedeutenden Gegenstand wird
man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem
Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein
Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Gränzen und
Uebergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas
von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber
bedeutend macht. 206. Bücher, welche tanzen lehren. - Es giebt Schriftsteller, welche
dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom
Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein
Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie
wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust
durchaus tanzen müsste. 207.
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Nicht fertig gewordene Gedanken. - Ebenso wie nicht nur das
Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth an sich
haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind,
so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man
muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und
sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen, wie als ob der
Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle;
man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein
Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt
Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg
und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen;
der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten
Schmetterlingsflügel - und doch entschlüpft er uns. 208. Das Buch fast zum Menschen geworden. - Jeden Schriftsteller überrascht
es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein
eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der
eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen
Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt
er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst
versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen
er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich
seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue
Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen - kurz: es lebt wie
ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. - Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter
Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden,
erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen
Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche
bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen
sei. - Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht
nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen,
Entschlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest
sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die
wirkliche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal
bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem
Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt. 209. Freude im Alter.
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- Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein
besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte
Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit
angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb
an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser
leer ist und alle Schätze gerettet sind. 210. Ruhige Fruchtbarkeit. - Die geborenen Aristokraten des Geistes sind
nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem
ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch
Neues verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein
und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht
man eigentlich Nichts zu machen, - und thut doch sehr viel. Es giebt
über dem "productiven" Menschen noch eine höhere Gattung. 211. Achilles und Homer. - Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer:
der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere beschreibt
sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung
Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er
empfunden hat, viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen
der grossen Leidenschaft, aber häufig geben sie sich als solche in
der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr
traut, wenn ihr eigenes Leben für ihre Erfahrung auf diesem Gebiete
spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu
beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen,
sofort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber mit der
tiefwühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden
Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie
gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig
zügellose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber das
ist etwas Anderes. 212. Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst. - Sollten Mitleid und Furcht
wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so
dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten
Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen? Es ist
bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss,
wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linderung und
zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und
das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe,
welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder
Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung gestärkt, trotz jener
periodischen Linderungen.
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Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht
in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen
würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung
überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er
meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und
rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig
eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare,
thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato's
Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen
Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergötzen, zu immer
grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. - Aber welches Recht
hat unsere Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem
moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir
selbst die Kunst, - wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss
der Kunst? 213. Freude am Unsinn. - Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So
weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man
kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckmässigen in's
Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser
Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt
wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des
Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für
gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen
dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt)
sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am
Saturnalienfeste. 214. Veredelung der Wirklichkeit. - Dadurch, dass die Menschen in dem
aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender
Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit
jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch
thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker,
vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse
Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche
in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der
Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus
der Bacchantin herausgebildet haben. - Die Griechen besassen nämlich
Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesundheit; - ihr Geheimniss
war, auch die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu
verehren. 215. Musik.
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- Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für
unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des
Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie
hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und
Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct
zu in Inneren und käme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst
möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer
Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der
Tonmalerei. Die "absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen
Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener
Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum
Verständniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer
Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische
Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen,
welche in der Entwickelung der Musik zurückgeblieben sind, können das
selbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen
Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und
bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom "Willen", vom "Dinge an sich";
das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den
ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert
hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang
hineingelegt, wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der
Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich
den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist. 216. Gebärde und Sprache. - Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von
Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei
einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten
Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht
nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können (man kann
beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches
Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der
nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper
des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt
noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte
Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche
Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haar ausraufen,
die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der
Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll
und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses
(Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist,
diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen).
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- Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine
Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine
Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton
und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton
hervorbrachte. - Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals
ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der
Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich
geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus
(Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung
an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen
Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe
des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht
mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann
von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere
Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird. 217. Die Entsinnlichung der höheren Kunst. - Unsere Ohren sind, vermöge der
ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung
der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir
jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr "Lärm", weil wir viel besser
eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hin zu horchen, als unsere
Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass
sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem "es bedeutet" und nicht
mehr nach dem "es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine
solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der
Temperatur der Töne verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die
feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch
machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert
worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige
Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich,
namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen,
hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge
zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben
einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das
hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch
hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom
künstlerischen Verstande erobert worden.
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- Was ist von alledem die
Consequenz? je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen
sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's
Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das
Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, - und so gelangen
wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem
anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist hässlicher als je,
aber sie bedeutet eine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr
der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so
seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen
bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu
geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in
Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwickelung:
hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren
Ansprüchen und immer mehr nach dem "es bedeutet" hinhörend, und dort
die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das
Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen
und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst
dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen
lernt. 218. Der Stein ist mehr Stein als früher. - Wir verstehen im Allgemeinen
Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir
Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren
herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt
sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom
ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen
oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar
in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer
unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem
zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System
hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch
Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen;
Schönheit milderte höchstens das Grauen, - aber dieses Grauen war
überall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schönheit eines
Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau:
etwas Maskenhaftes. 219. Religiöse Herkunft der neueren Musik.
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- Die seelenvolle Musik entsteht
in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen
Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und
tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im
Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von
seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden
war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist
die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und
Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung
mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken
der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper
vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine
zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia
wieder eine Seele schenken wollte. - Ohne jene tief religiöse
Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes
wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der
Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener
Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So
tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. - Die Musik war die
Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere
Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr
jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt dürfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die
Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur
zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik
regiert, der Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen,
das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der
Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die
Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, - das hat Alles
schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze
geschaffen: - es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der
Renaissance. 220. Das Jenseits in der Kunst. - Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht
man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten
Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung
hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind
die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der
Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an
die absolute Wahrheit derselben.
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Nimmt nun der Glaube an eine solche
Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die
äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann
jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche, wie die divina
commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die
gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine
metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine
rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen
Künstlerglauben gegeben habe. 221. Die Revolution in der Poesie. - Der strenge Zwang, welchen sich die
französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der
Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl
der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des
Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder
wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich
so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes
Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf
das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen
schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die
höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die
Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier
sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis
sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist das
höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche
Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die
französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum
Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor
man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den
Naturalismus - das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm
versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder
auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt
es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn der Faden der
Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre
Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch
verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich
ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er
bekanntlich ablehnte).
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Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf
einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus
dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten; sie
machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von
Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese
nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu
stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der
europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der
grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten
tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass
bändigte, - er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil
die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die
Natur des Deutschen -; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller
war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr,
griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit
und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist,
welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings
unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent
und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe,
seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur
Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution
und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor
sich selber anwandelte, - aber die Zügel der Logik, nicht mehr des
künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung
eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen
Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und
Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum "grossen
Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe
und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher
fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen"
unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die
Formlosigkeit seines Faust in das günstigste Licht zu stellen.
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Aber
auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile
aller Völker muss ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem
ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle
Dichter müssen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten
werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum
endlich, welches verlernt hat, in der Bändigung der darstellenden
Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die
eigentlich künstlerische That zu sehen, muss immer mehr die Kraft
um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um
des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen
schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des
Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, geniessen und zu guterletzt
die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm
auch darreichen müsse. Ja, man hat die "unvernünftigen" Fesseln der
französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran
gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; - und
so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei
- was freilich höchst belehrend ist - alle Phasen ihrer Anfänge,
ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse
und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre
Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man
sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein
dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, - Lord Byron hat einmal
ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je
mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir
allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere.
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Wir folgen
Alle einem innerlich falschen revolutionären System, - unsere oder die
nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es
ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare
als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten
Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht
aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau das Selbe? - jene
Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von
Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann,
Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen
Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was
Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden,
Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der
Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung
und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen
empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen
gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie
des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten,
wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu
bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So
lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein
Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter,
längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar
in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der
Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen,
dass sie einmal erfüllt gewesen sind und dass auch wir noch an
dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr
oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast
Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige
Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die
einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden,
pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem
artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und
Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender
Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe
später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten. 222. Was von der Kunst übrig bleibt.
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- Es ist wahr, bei gewissen
metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth,
zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich
sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen
fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des
ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem
Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch
im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch
nichts Festes und Beharrendes ist. - Ebenso steht es bei einer andern
metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt
nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die
Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der
Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar
zu viel Aehnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte
sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der Natur,
weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur
darstellte. - Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung
bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie
durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das
Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu
bringen, dass wir endlich rufen: "wie es auch sei, das Leben, es
ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das
Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als
Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, - diese Lehre ist in
uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des
Erkennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde
damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie
man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen
Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und
die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen
und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem
Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und
Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des
künstlerischen. 223. Abendröthe der Kunst. - Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und
Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im
Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll
erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen
scheint.
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Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche
an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter
Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei
über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das
Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher
Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den
Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und
ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit
das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht
leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht
aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon
hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet
noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen. Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur. 224. Veredelung durch Entartung. - Aus der Geschichte ist zu lernen, dass
der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten
Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten
und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen
Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die
Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit
schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr
dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen
gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte
Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren
Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen
hängt: es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei
versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr
ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie
Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem
stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser
wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas
Neues gleichsam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug
sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein
Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine
theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den
Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden.
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- Etwas Aehnliches
ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung,
eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche
oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines
kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich
zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird
Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen
und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf
um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das
Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt
werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die
Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und
Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen,
dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise
Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade
die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles
Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und
schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die
Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so
fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus
seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm
Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt,
zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden
sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles
inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen
und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. - Was den
Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen
von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders
denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche
alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit". Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige
Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich
wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität,
sich dagegen wehren. 225. Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Freigeist,
welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft,
Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden
Zeitansichten erwartet.
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Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister
sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze
ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf
freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen
Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch,
diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und
Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die
Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit
schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe
seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in's Gesicht
geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug
verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind
redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die
eine oder die andere Art. Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen
sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als
die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es
darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie
gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister
Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die
ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus
Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. - Uebrigens
gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere
Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen
gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich
wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der
Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die
Anderen Glauben. 226. Herkunft des Glaubens. - Der gebundene Geist nimmt seine Stellung
nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel
Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und
die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er
sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und
das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie jemand, der in
einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er
Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu
Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe
umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um.
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Man
nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die
Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer
für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung
geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben. 227. Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. - Alle Staaten
und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung,
das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben
der gebundenen Geister an sie, - also in der Abwesenheit der Gründe,
mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die
gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es
ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen
intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts,
forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach
Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens
hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es
an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsächlich verfährt der
Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn:
halte diess nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess
thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen Nutzen, den
eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die
Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und
Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte
vor Gericht spräche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn
seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. -
Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben,
so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten
ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm
gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen
scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen
diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder
fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich. 228. Der starke, gute Charakter. - Die Gebundenheit der Ansichten, durch
Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke
nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven
handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen
diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebundenen
Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie
thut, die Empfindung des guten Gewissens.
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Wenige Motive, energisches
Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke
nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen
Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei,
gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei
Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner
ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und
schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie
ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das
Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas
Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch
zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas
Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt
man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das
Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister
stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der
Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder
Stande nützlich. 229. Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. - Von vier Gattungen der
Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle
Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche
uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche
uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche
wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum
Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen
wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht
sind. - Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der
gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer
Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat,
sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie
den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von
diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt
es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben. 230. Esprit fort. - Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner
Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist
immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive
und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand.
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Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu
machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu
Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess
in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit
welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle
Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet? 231. Die Entstehung des Genie's. - Der Witz des Gefangenen, mit welchem
er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und
langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher
Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie - ein Wort, das
ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu
verstehen - zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und
reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. - Oder mit
einem anderen Bilde: jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig
verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung
hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen
Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität
nachrühmt. - Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung,
Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die
Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut
entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu
versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung zu
errathen. - Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung
des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die
Entstehung des vollkommenen Freigeistes. 232. Vermuthung über den Ursprung der Freigeisterei. - Ebenso wie die
Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit
grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch
wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss
dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich
gewachsen ist. 233. Die Stimme der Geschichte.
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- Im Allgemeinen scheint die Geschichte
über die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben:
misshandelt und quält die Menschen, - so ruft sie den Leidenschaften
Neid, Hass und Wetteifer zu - treibt sie zum Aeussersten, den Einen
wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte
hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite
fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf
einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den
Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein
anderes Gebiet über. - Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des
Genius' käme und die Art, wie die Natur gewöhnlich verfährt, auch
praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos
wie die Natur sein müssen. - Aber vielleicht haben wir uns verhört. 234. Werth der Mitte des Wegs. - Vielleicht ist die Erzeugung des Genius'
nur einem begränzten Zeitraume der Menschheit vorbehalten. Denn man
darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten,
was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein
hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen
Wirkungen des religiösen Gefühles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt
und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus
ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten
Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der
Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes
möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Und
so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter
der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor - und tritt hervor,
denn wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche,
lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige
Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein,
wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der
mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am
Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt
ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am Ungenauen, am
Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der
Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden
allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer
Unwirklichkeit verlangten.
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Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht
rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der
halb-barbarischen Gesellschaft nach unseren Zeiten. 235. Genius und idealer Staat in Widerspruch. - Die Socialisten begehren
für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde
Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht
wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse
Intellect und überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein:
ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden
sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen
zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen
gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde
Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme,
mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden
Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben
darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr
Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz
will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst,
das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer
Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das
Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese
nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen
ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten
Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem
endlichen Entstehen des höchsten Intellectes gelegen ist; mindestens
wird er der Begründung des "vollkommenen Staates" nicht förderlich
sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus
dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen,
förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der
geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf:
und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise
- diess darf man wohl vorhersagen - wird ebenso nothwendig der
Erzeugung eines Christus hinderlich sein. - Der Staat ist eine kluge
Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: übertreibt man
seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt,
ja aufgelöst, - also der ursprüngliche Zweck des Staates am
gründlichsten vereitelt. 236. Die Zonen der Cultur.
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- Man kann gleichnissweise sagen, dass
die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimate
entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die
geographischen Zonen, neben einander liegen. Im Vergleich mit der
gemässigten Zone der Cultur, in welche überzugehen unsere Aufgabe
ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines
tropischen Klima's. Gewaltsame Gegensätze, schroffer Wechsel von Tag
und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen,
Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der
hereinbrechenden Unwetter, überall das verschwenderische Ueberströmen
der Füllhörner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller,
doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende
Luft, Schärfe, ja Kälte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen
einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidenschaften
durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt
niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als
ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen
ungeheurer Schlangen zerdrückt würden; unserem geistigen Klima fehlen
solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume
kommt uns Das nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber
sollten wir über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst
zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden der tropischen
Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein
Wenig zu nüchtern finden? Insofern haben Künstler wohl das Recht,
den "Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei
Jahrtausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen,
das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer
Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt
zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf
metaphysische Philosophie und Religion überblickt. - Uns gilt aber die
Existenz der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt. 237. Renaissance und Reformation. - Die italiänische Renaissance bar -
in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur
verdankt - also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten,
Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, - Begeisterung für die
Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen,
Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und
Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen
Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in
ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher
Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive
Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht
wieder so mächtig geworden sind.
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Es war das goldene Zeitalter dieses
Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich
nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest
zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters
noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die
ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen
Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe
empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit
die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst
ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten
eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei
Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der
Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken
und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die
grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden,
der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches
im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder
zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag
in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass
damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der
Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug
des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der
Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen
den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der
Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenröthe
der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als
wir jetzt ahnen können, aufgegangen. 238. Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. - Wenn sich die ganze
Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen
und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick
dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was
für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser
enthüllt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der
Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses
Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein
metaphysischer Ausblick - gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere
der Geschichte herab -, an welchem eine allzuviel historisirende
Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse
werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag.
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Nur wer, wie
Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem
Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von
jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss,
Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen. 239. Die Früchte nach der Jahreszeit. - Jede bessere Zukunft, welche man
der Menschheit anwünscht, ist nothwendigerweise auch in manchem
Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei, zu
glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge
früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die
höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede
Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schliesst die der
anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft
gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist;
höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung
darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung
an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefühl des Verlustes, der
Entbehrung verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine
neue Kunst geboren werden könnte. 240. Zunehmende Severität der Welt. - je höher die Cultur eines Menschen
steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte. Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem
Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung
gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte
Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was
jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem
gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer begehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und
anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er
vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser
Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. Je gründlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er
spottet, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die "Gründlichkeit
seines Verstehens" spottet. 241. Genius der Cultur. - Wenn jemand einen Genius der Cultur imaginiren
wollte, wie würde dieser beschaffen sein? Er handhabt die Lüge,
die Gewalt, den rücksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine
Werkzeuge, dass er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre;
aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut.
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Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsflügel
dazu am Haupte. 242. Wunder-Erziehung. - Das Interesse in der Erziehung wird erst von dem
Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott
und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen
konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufhörte. Bis jetzt glaubt aber
alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der grössten Unordnung,
Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die
fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch
mit rechten Dingen zugehen? - jetzt wird man, bald auch in diesen
Fällen, näher zusehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei niemals
entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche
Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist dafür
gewöhnlich stärker geworden, weil es diese schlimmen Umstände vermöge
unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt
und vermehrt hat: so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche
an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben:
erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch
neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen
so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne
dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, -
kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und
öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die
Melodie führen und als Melodie begleiten? 243. Die Zukunft des Arztes. - Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so
hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die
geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwörungskünste
nicht mehr unter öffentlichem Beifall treiben dürfen und ein
Gebildeter ihnen aus dem Wege geht.
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Die höchste geistige Ausbildung
eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten
Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse
von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die
Diagnostiker berühmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben,
die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe
zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den
Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit
im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig
haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen
(und können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die
Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, - kurz
ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller
andern Berufsclassen: so ausgerüstet, ist er dann im Stande, der
ganzen Gesellschaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung guter
Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen
Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig
der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen
Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende
Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so
erst wird er aus einem "Medicinmann" ein Heiland und braucht doch
keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen. 244. In der Nachbarschaft des Wahnsinns. - Die Summe der Empfindungen,
Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so
gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte
die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der
europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer
grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. Nun
kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in
der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls,
jener niederdrückenden Cultur-Last vonnöthen, welche, wenn sie selbst
mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen
Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat dem
Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfülle tief
erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern,
müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen
etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des
Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt; er ist vornehmlich
durch das Christenthum so wild geworden. 245. Glockenguss der Cultur. - Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke,
innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit,
Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller
einzelnen Völker, waren dieser Mantel.
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So ist es auch in der Geschichte der Menschheit;
die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend, aber trotzdem
war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesittung hier
ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien - Das, was man das
Böse nennt - sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der
Humanität. 247. Kreislauf des Menschenthums. - Vielleicht ist das ganze Menschenthum
nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter
Dauer. so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder
zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem
verwunderlichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit
dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der
Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des
Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm, so könnte auch
durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel
höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen,
bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. - Gerade weil wir diese
Perspective in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande,
einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen. 248. Trostrede eines desperaten Fortschritts. - Unsere Zeit macht den
Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die
alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht
sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und
Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte
verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine
Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald
nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch
keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist
nöthig, dadurch nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa
preiszugeben. Ueberdiess können wir in's Alte nicht zurück, wir haben
die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun
dabei diess oder jenes herauskommen. - Schreiten wir nur zu, kommen
wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch
einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des
Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher
Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, ä laquelle
nous appartenons. 249. An der Vergangenheit der Cultur leiden.
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- Wer sich das Problem der
Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie
Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum
ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren
regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt,
oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche
er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen
Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht
er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der
Vergangenheit leiden wie er. 250. Manieren. - Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem
der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie
nachlässt: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich
beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als
welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr,
auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt
sich die lächerliche Thatsache, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig
Huldigungen darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne
oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefühls, der treuherzigen,
ehrenfesten Biederkeit borgt - aus Verlegenheit und Mangel an Geist
und Grazie. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der
Menschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne
diess zu sein. - Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab
gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve
machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die
Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so
dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren
früherer formbildender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt
werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Ausdrücke des
Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natürlich erscheinen
müssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere
Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen
Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und
strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und
Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. - Hier könnte man
nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn
sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der
That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der
Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch
ist schwach.
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Die Vergangenheit ist noch zu mächtig in ihren Muskeln:
sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur Hälfte
weltliche Geistliche, zur Hälfte abhängige Erzieher vornehmer Leute
und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch
veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie
sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel
ihres Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften
Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der
gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur
dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl
die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um:
was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die
gefälligste Haltung haben? 251. Zukunft der Wissenschaft. - Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in
ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse
lernt, sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten
der Wissenschaft alltäglich und gemein werden müssen, so hört
auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so
bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und
immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik,
Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene grösste Quelle der Lust,
welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt. Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn,
gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann
um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne
Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der
Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der
Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss
geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den
bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt
werden. - Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt,
so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger
es Lust gewährt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen
sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren
ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das
Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem muss die
Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es,
gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür,
dass sie immer wieder die Kraft dazu findet? 252. Die Lust am Erkennen.
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- Wesshalb ist das Erkennen, das Element des
Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor Allem,
weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben
Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll
sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere
Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder
wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch
so kleine neue Erkenntniss über Alle erhaben und uns als die Einzigen
fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur
Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des
Erkennenden, noch viele Nebengründe. - Ein nicht unbeträchtliches
Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht
suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer: mit deren
Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden
geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen
Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist,
dass zum Entstehen des Gelehrten "eine Menge sehr menschlicher Triebe
und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte
zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und "aus einem
verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht":
so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des
Künstlers, Philosophen, moralischen Genie's - und wie die in jener
Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient
in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: desshalb
ist die Ironie in der Welt so überflüssig. 253. Treue als Beweis der Stichhaltigkeit. - Es ist ein vollkommenes
Zeichen für die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber vierzig Jahre
lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es
noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die
seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschätzung - mindestens
mit Argwohn - herabgesehen hätte. - Vielleicht hat er aber nicht
öffentlich von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder - wie
es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist - aus zarter Schonung seiner
Anhänger. 254. Zunahme des Interessanten. - Im Verlaufe der höheren Bildung wird dem
Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache
rasch zu finden und den Punct anzugeben, wo eine Lücke seines Denkens
mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie bestätigt werden
kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die
übermässige Erregbarkeit des Gemüthes.
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Er geht zuletzt wie ein
Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich
selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb
stark anregt. 255. Aberglauben im Gleichzeitigen. - Etwas Gieichzeitiges hängt zusammen,
meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit
träumen wir von ihm, - also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir
träumen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche
Gelübde thun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche
zu Grunde giengen, nicht. - Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt,
eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein
Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit der Natur, wie
diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. - Diese Gattung
des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und
Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem
doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art
Wasserscheu zu haben pflegen. 256. Das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. - Der
Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng
betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese
werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend
kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an
Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen
Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar,
in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein
wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. 257. Jugendreiz der Wissenschaft. - Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt
noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und
langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer
mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft
und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie
aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe
geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht
entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie
anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur
noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig bleibt (welche
Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen
kann). 258. Die Statue der Menschheit.
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- Der Genius der Cultur verfährt wie
Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die
flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf
er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer, Laster, Hoffnungen,
Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle
hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig
werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet
wurde? 259. Eine Cultur der Männer. - Die griechische Cultur der classischen Zeit
ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles
in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn
unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. -
Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem,
unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige
Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle
höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe
herbeigeführt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen
Natur warf sich auf jenes Verhältniss, und wahrscheinlich sind junge
Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in
Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und
fünften Jahrhundert, - also gemäss dem schönen Spruche Hölderlin's
"denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je höher dieses
Verhältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der
Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust - Nichts
weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht
einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst
vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so
bleiben nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der
Weiber. - Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone
vorführte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon man es im
Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leben nicht
vertragen, aber in der Kunst gern sehen. - Die Weiber hatten weiter
keine Aufgabe, als Schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen
der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit
der überhand nehmenden Nervenüberreizung einer so hochentwickelten
Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur
verhältnissmässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern
kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück. 260. Das Vorurtheil Zu Gunsten der Grösse.
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- Die Menschen überschätzen
ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der
bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich
finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich
gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen
selber eine gleichmässige Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und
glückbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen
Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kann
den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der
Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit;
aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich
fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem,
was Macht haben will. 261. Die Tyrannen des Geistes. - Nur wohin der Strahl des mythus fällt, da
leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben
sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es
nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die
Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus
dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne,
der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden
diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was jeder von ihnen seine
"Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen
grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen
Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch
hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins
zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese
Philosophen hatten - einen handfesten Glauben an sich und ihre
"Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder;
jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger Tyrann. Vielleicht
war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in
der Welt, aber auch nie die Härte, der Uebermuth, das Tyrannische und
Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder
Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte. Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er
es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es
aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber
sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab
Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gründete
eine Stadt.
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Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste
philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden; er scheint
schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und
seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je
mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt
es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die
verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da
waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und
Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt
als Gift in ihrem Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich
roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig
Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. -
Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden
und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des
Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht
plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass
sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von
Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen - und dann ist
es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der
griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der
Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu
allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: "möglichst
wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte läuft
so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt
worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der
Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr
gerühmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener
schrittweisen Manier allmählich zu sein, wie es die Schildkröte
im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürliche
Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so
schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert,
dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen
macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht
war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu
schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen
Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des
philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren
ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in einer Bildner-Werkstätte
solcher Typen hinein.
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Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber
doch noch mehr und Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht
hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt
es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer
neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des
philosophischen Lebens. Selbst von den älteren Typen sind die meisten
schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis
Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese
Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem
und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte
selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren
Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im
Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es,
als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob
sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen
Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine
Lücke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglück muss
geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck
jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach
oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein
Geheimniss der Werkstätte geblieben. - Das, was bei den Griechen sich
ereignete - dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der
absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die
Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten
und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische
Geschichte zeigt - diese Art von Ereignissen war damit nicht
erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein
begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem
reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen
redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die
Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der
höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, -
aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der Oligarchen
des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen
Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich
erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die
Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller
für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen.
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Subsets and Splits
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